Aus ‚Spiegel Online‘ vom 20.04.2010
Zum 100. Todestag von Mark Twain
Was verdanken wir ihm nicht alles: den großartigen Schelm Tom Sawyer, den genialen Streuner Huck Finn. Aber Mark Twains Phantasie reichte noch weiter: Sie erschuf Amerika aus dem Geiste der Komik und Kulturkritik. Eine Würdigung zum 100. Todestag.
Der Erfinder des Rades hat sich im Dunkel der Geschichte verloren und der Erfinder der Glühlampe im Zwielicht des Patentrechts. Aber wer die Amerikaner erfunden hat, lässt sich aus seinen Büchern ablesen: Samuel Langhorne Clemens (30. November 1835 bis 21. April 1910) alias Mark Twain war viel mehr als der Vater aller Stand-up-Comedians und Verfasser von Jugendromanen, als den man ihn lange missverstanden hat.
Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein wurde die Literatur der USA, wurden die Werke eines Cooper, Irving, Melville und Poe von Leuten bevölkert, die Natty Bumppo, Rip van Winkle, Ismael, Ahab oder Auguste C. Dupin hießen – Namen, die erkennbar dem alten Europa oder dem Alten Testament entstammten. Dann kam 1876 ein Romananfang, wie man ihn noch nicht gelesen hatte: „Tom!“ So pointiert ist kein anderer Held ins Leben gerufen worden wie Tom Sawyer – der Sohn von Amerika und Mark Twain.
Was aber folgt auf Tante Pollys Lockruf? „No answer“ – keine Antwort. Keine Frage, Tom Sawyer will sich ebenso wenig in die Erwachsenenwelt hineinrufen lassen wie später Peter Pan – und viel später dessen traurige Karikatur Michael Jackson auf seiner Neverland-Ranch.
Wie gut, dass er Freunde hat, legendäre, die ebenfalls Literaturgeschichte schreiben sollten, allen voran der Streuner Huck Finn, dessen Lebensader der Mississippi ist. Und natürlich einer der frühen schwarzen Helden der US-amerikanischen Dichtung, der „Nigger“ Jim.
Die Verwendung des schlimmen „N-Wortes“ lastet man Mark Twain bis heute an, doch der Schriftsteller war in eine Sklavenhalter-Gesellschaft hineingeboren worden und behielt deren Tonfall im Ohr.
In seinen Lebenserinnerungen berichtet er von einem Sklavenjungen, dessen ständiges Singen ihn als Kind schier in den Wahnsinn trieb. Darauf habe seine Mutter ihm erklärt, dass dieser Junge seinen Eltern entrissen und verkauft worden sei: „Armes Ding, wenn er singt, zeigt das, dass er sich nicht daran erinnert, und das beruhigt mich; aber wenn er still ist, fürchte ich, dass er daran denkt, und das kann ich nicht ertragen.“
Die Leere mit Wörtern füllen
Auch ihr Sohn Samuel hat „gesungen“; laut und oft hat er jeden Schicksalsschlag mit einer Pointe pariert. Fast jeden. Mit elf verlor er seinen Vater, später den Bruder, und als Vater seinen einzigen Sohn, zwei seiner Töchter und seine Frau Olivia. In deren Bild hatte er sich auf einer Kreuzfahrt verliebt, die er 1869 in „Die Arglosen im Ausland“ zur Grundlage eines Bestellers machte.
Am Weihnachtstag 1909, wenige Stunden nachdem man seine Tochter Jean tot im Bad aufgefunden hat, sitzt er dann da, ein Witwer, ein verwaister Vater. Er trauert um die Tochter, mit der er selbst noch einmal Kind hatte sein dürfen. Und er schreibt: „Vor einem Monat schrieb ich vor Witz übersprudelnde Artikel für Magazine, die noch erscheinen werden, und nun schreibe ich – dies.“
Es bedurfte wohl der Härte eines ehemaligen Mississippi-Lotsen, eines Mannes, der durch die Schatzgräberstädte des Wilden Westens gezogen war und an Orten zur Feder gegriffen hatte, wo man seiner Meinung eher mit dem Colt Ausdruck verlieh, um Mark Twain zu bleiben, während nebenan die Tochter aufgebahrt lag.
Die Leere, die solche Schicksalsschläge in ihm hinterließen, hat er mit einer Flut von Wörtern und Bildern gefüllt. Mark Twain hat Amerika in sich aufgesogen wie Edgar Allan Poes Mahlstrom das Meer – all seine Menschen, Landschaften, Flüsse, Idiome, Gerüche, Geräusche. Als er zu schreiben begann, wurde aus dieser Vielfalt eine neue Einheit und Wirklichkeit – so wirklich denn Literatur sein kann.
Rund ums Mittelmeer hat er dann seine Amerikaner geschickt und auf „Bummel durch Europa“. Nach Hawaii und über den Pazifik ist er ihnen vorausgereist. Selbst vor Zeitreisen schreckte er nicht zurück. Sein „Connecticut Yankee an Königs Artus‘ Hof“ ist ein Gegenstück zu Cervantes‘ „Don Quixote“ und ein Vorgriff auf die Trottel in strahlender Rüstung, die uns Monty Python bescherten. Mark Twains Held ist nicht von trauriger Gestalt, sondern von niederschmetternder Tüchtigkeit, während die Ritter der Tafelrunde dem „Holy grailing“ frönen – der vergeblichen Suche nach dem Heiligen Gral.
Spott, Witz, Kritik
Mark Twain reiste weder vergeblich noch umsonst. Aus Lesereisen wurden Welttourneen, auf denen er Stoff für weitere Bücher sammelte. „Wenn der literarisch gebildete Deutsche“, so begann er eine Überlegung, die Kritik und Beispiel vereinte, „sich in einen Satz stürzt, sieht man nichts mehr von ihm, bis er auf der anderen Seite seines atlantischen Ozeans mit dem Verb zwischen den Zähnen wieder auftaucht.“
Gebildete Deutsche und selbst gekrönte Häupter ertrugen solchen Spott mit Heiterkeit. George Orwell hat Mark Twain deshalb einen „licensed jester“ genannt, einen Hofnarren. Hinter jedem seiner Bücher spukten die Geister größerer, die er dem Witz geopfert habe.
Dieser Witz aber war der Zucker über die bitteren Pillen, die dieser Amerikaner schlechthin seinen Zuhörern verpasste. Und wer hätte die Amerikaner besser verstanden als ihr Erfinder? „Wir amerikanisieren Europa, und in nicht allzu langer Zeit werden wir den Job vollendet haben“, schrieb er 1906.
Vier Jahre später, am 21. April 1910, starb Mark Twain. Vier Jahre darauf verging Europa das Lachen.
aus ‚Spiegel Online‘ vom 20.04.2010